Hör zu

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Bernhard

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Das ist ein Essay von Thomas Meyer.
Ich finde es schlicht brillant.
Falls jemand Zeit findet, kann er es ja lesen :)
Es erschien im Januar 2005 in der Schweizer Weltwoche.

Essay

Hör zu

Alle Welt redet von Freundschaft und der Angst vor
Vereinsamung. Dabei gibt es einen Weg, das Schöne zu
erhalten und das Schlimme hinauszuzögern: einfach mal
das Maul halten.

19.01.2005

Von Thomas Meyer

Darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten? Gesetzt den
schönen Fall, dass ich diese bis zum Schluss bewahren kann,
Sie mich also gleichsarn ausreden lassen, entsteht hier ein
feines Beispiel für Zuhören. Ich führe meine Gedanken aus,
und Sie folgen mir. Fällt Ihnen dabei etwas auf, zu dem Sie
etwas sagen möchten, so rufen Sie nicht jedes Mal ins Heft
hinein, sondern warten Sie, bis ich geendet habe, und
schreiben Sie dann einen Leserbrief.
Ein Gespräch verläuft nicht so. Denn in einem Gespräch gibt
es mindestens zwei Autoren und zwei Leser und somit
ständig die Frage, wer wann was sei. Die praktische Antwort
ist ein gnadenloses Ringen um die Autorenschaft. Mit
Einwürfen wie <<Das ist genau wie bei mir, ich...>> gibt man
zwar vor, einfühlsam an die Gedanken des Gegenübers zu
knöpfen, bezweckt damit aber nichts anderes, als den
anderen endlich zum Schweigen zu bringen. Der andere ist
nicht lange böse, er wird bald das Gleiche tun, und somit
lasst sich sagen, dass ein Gesprach meist nur deshalb
aussieht wie ein Gespräch, weil sich beide
abwechslungsweise das Wort entwinden.

Freundschaftliches Desinteresse

Solches ist nicht schön, es ist sogar sehr verletzend, denn
obwohl man sich Freunde nennt, zusammen einen Abend
verbracht und viel von sich erzahlt hat, geht man oft mit
dem Gefühl des Unverstandenseins, ja Ungehörtseins nach
Hause. Die persönlichen Dinge, die jeder auf den Tisch legt,
werden vom andern ungeduldig beiseite gewischt, damit
Raum für die eigenen entstehe; und am Schluss findet sich
dort nicht ein hübsches Türmlein aus Brüderlichkeit,
sondern die schwer erträgliche Erscheinung des
freundschaftlichen Desinteresses.
Wer beobachtet, wie schlecht ihm zugehört wird und wie
schlecht er selbst zuhört, wie oft er unterbrochen wird und
selbst unterbricht, kommt zur Feststellung, dass man am
Zuhören wenig Vergnügen findet und es sogar regelrecht
hasst, anderen zuzuhören. Diese Grobheit bleibt gewöhnlich
unbemerkt, weil sie in all den neuen Wörtern untergeht. So
vertut der Mensch täglich Chancen, seine Nächsten wirklich
kennen zu lernen. Er tritt in genereller Appetitlosigkeit an
sie heran und ignoriert weitgehend, wie es in ihnen
ausschaut, was hauptsächlich daran liegt, dass er es bereits
zu wissen glaubt, so wie er alles bereits zu wissen glaubt.
Zuhören ist den meisten Leuten eigentlich lästig, es stört sie,
wie sie im Strassenverkehr ein zweites Set Schilder stören
würde, in einer fremden Sprache und mit komplett anderen
Richtungsangaben.

Bloss kein Schwatz über Liebeskummer

Stellen Sie sich vor, ein Freund hat sich verliebt, doch daraus
wird nichts, und nun erzählt er Ihnen seine Geschichte.
Gerade in Liebesdingen wähnt sich ja jeder im Besitze der
absoluten Wahrheit, und unter strenger Missachtung der
Verschiedenheit der Menschen und ihrer Verbindungen hält
man an jede Situation sein eigen Mass.
Wenn Sie beispielsweise zu jenen gehören, die glauben, man
müsse sich rar machen, um für andere interessant zu sein,
so werden Sie im unterlassenen Sich-rar-Machen Ihres
Freundes die Wurzel seines Unglücks finden und seine
eigenen Gedanken dazu gar nicht mehr hören wollen,
sondern ihn gemass Ihrem Glauben belehren.

Dazu Folgendes:

1 - Die Liebe ist, oder sie ist nicht. Wenn sie nicht ist, tut das
weh, und man möchte wissen, warum sie nicht ist, damit es
beim nächsten Mal nicht mehr wehtut. Allein, es gibt keine
Erklärung, denn die Liebe ist, oder sie ist nicht. Man kann
nur warten, bis sie ist.

2 - Wenn Sie trotzdem wissen wollen, warum die Liebe nicht
ist, dann werden Sie sich verhalten wie ein Informatiker vor
einem abgestürzten Computer. Sie werden einen
Systemfehler suchen. Die meisten Gesprache unter
Freunden widmen sich der Suche nach dem Systemfehler
des Herzens.

3 - Solche Gespräche verlaufen, siehe Punkt eins, in jedem
Fall ergebnislos. Sie machen sogar alles nur schlimmer,
denn man fühlt sich, als würde man blutend ein Spital
aufsuchen, wo die Ärzte nicht etwa mit Kompressen und
frischem Tee herbeieilen, sondern mit hochgezogener
Augenbraue über die Ungeschicktheit reden, durch welche
die vorliegende Blessur zustande gekommen sein muss.
Gehen Sie nie zu Ihren Freunden, Wenn Sie unglücklich
sind! Sie werden nur Populärnebel zu hören bekommen und
nachher doppelt so viel Alkohol trinken müssen. Dies
allerdings bedeutet nicht zwingend eine Verschlechterung
des Zustandes.

4 - Die zentrale Problematik dieses Nichtzuhörens lautet,
dass Ihre Meinung gar nicht gefragt ist. Wahrscheinlich
reden auch Sie Käse, Wenn es um Herzensangelegenheiten
geht, aber selbst wenn es stimmt, was Sie sagen, so spielt das
keine Rolle, denn es geht nicht um Sie, sondern um Ihr
Gegenüber. Eine Erzählung ist ein Geschenk und keine
Einladung zur Korrektur. Sie haben nur still dazusitzen und
Ihren Freund besser kennen zu lernen, auch und gerade
wenn Sie finden, er rede wirr. Dann haben Sie eben einen
wirren Freund.

Achtzehn Hohepunkte <<in one session»

Warum interessiert es uns so wenig, wie unsere
Mitmenschen denken und fühlen? Warum fangen wir, kaum
reden sie davon, selbst an zu reden und reden ihnen am
liebsten alles aus? Natürlich, man möchte helfen. Aber unter
diesem Vorwand werden auch Städte bombardiert. Wer
schimpft, hilft nur sich selbst: Zum einen mildert, wer
behauptet zu wissen, was die Regeln der Liebe und des
Lebens seien, die eigene Unsicherheit in dieser Frage. Denn
ein wirrer Freund erinnert einen an sich selbst; bei ihm
Ordnung zu schaffen, heisst, auch bei sich aufzuräumen.
Zum anderen verbreitet ein solcher Mensch eine
entsprechende Stimmung, und solange er nicht redet,
entströmt ihm auch keine weitere Finsternis.

Nicht zuhören kann also auch bedeuten, das Gesagte nicht
auszuhalten. Es ist nicht sonderlich originell, hier nun
darauf zu verweisen, dass ein besorgter Mensch Mitgefühl
braucht und keine Zurechtweisung. Aber es bedeutet ein
nicht unwesentliches Opfer, sich eine traurige Geschichte bis
zum Ende anzuhören. Das Ohr führt direkt zum Herzen, und
das macht Mitgefühl so schwierig: Man teilt das Leid.

Jemandem nicht zuzuhören, bedeutet in diesem Fall, nicht
dasselbe fühlen zu wollen. Das klingt bitter und bös, ist aber
leicht nachvollziehbar, denn wenn man die Anzahl Freunde
mit der allgemeinen Verzweiflungsrate multipliziert, ist man
eigentlich allabendlich aufgefordert, eine unbestimmte
Menge Traurigkeit in sich hineinwehen zu lassen. Wer das
nicht immer kann, ist kein Monster. Ein Monster ist bloss,
wer es a priori nicht will.
Doch auch bei harmlosen Unterhaltungen hört man schlecht
zu. Letzten Sommer besuchte ich Freunde im Ausland. Eines
Abends sassen wir zu dritt am Strand und tranken Bier. Der
eine erzahlte von einem sexuellen Erlebnis, das ihn ziemlich
erschüttert hat, seine Gespielin habe namlich nicht weniger
als achtzehn Hohepunkte erlebt, <<in one session», wie er
sagte. Aber, so fügte er kritisch hinzu, eigentlich sei es
unmoralisch, dieses Geheimnis mit anderen zu teilen.
Es entfaltete sich eine Diskussion über Moral und was Moral
denn überhaupt sei.

Moral, sagte der eine der beiden, sei eine Folge von
Zivilisation, andernfalls ja jeder hinmachen könne, wo es
ihm gerade passe. Es sei, was uns von den Tieren
unterscheide. Moral, sagte der andere, sei eine Form von
mehr oder weniger freiwilligem Zwang, der das
Zusammenleben erst ermögliche. Moral, sagte ich
schliesslich, sei trotz manchem Konsens als solche nicht
existent, da jeder seine eigene pflege und sie überdies
standigen Widersprüchen unterwerfe.

Das folgende Gesprach verlief folgendermassen: A brachte
seinen Standpunkt vor, wurde aber nach wenigen Worten
von B und C gleichzeitig unterbrochen, zwischen welchen
sich ein kurzer und meist durch Lautstärke entschiedener
Kampf um die Rede ergab, und so fort. Das ist
ausgesprochen unhöflich, aber es war im kollektiven
Empfinden eine berechtigte Unhöflichkeit, ging es doch
nicht um Anstand (obwohl das Thema lustigerweise Moral
war), sondern um die Wahrheit. Und wer nicht die Wahrheit
spricht, muss unterbrochen werden, im Namen der
Wahrheit.

Das Problem mit der Wahrheit ist, dass, wie schon gesagt,
jeder sie zu kennen vermeint. Oder anders: Jede persönliche
Definition erhebt den Anspruch, der Wahrheit zu
entsprechen, was nur logisch ist, schliesslich wäre sie sonst
nicht zur Definition geworden.
Prallen nun in einer Diskussion unterschiedliche Definitionen aufeinander, so
stellen sie sich gegenseitig in Frage.
Solche Gesprache werden folglich mit existenziellem Eifer geführt, es geht um
nicht weniger als die Standhaftigkeit der eigenen Person.
Sich anhören zu müssen, wie jemand die Wahrheit
demontiert, und gleichzeitig im Besitze der Wahrheit zu sein
— das ist zu viel verlangt. Zuhören käme hier einem
Selbstverrat gleich.
Aus diesem Grund herrscht an Sitzungstischen auch immer
die blanke Barbarei: Dort wird nur einem richtig zugehort,
nämlich dem Chef, und auch das nur, weil er tobsüchtig
wird, Wenn man ihn unterbricht, was ihn aber nicht davon
abhält, jeden am Tisch tobsüchtig zu unterbrechen.

Chef wird man wohl am einfachsten, indem man niemandem
zuhört ausser seinem eigenen Chef, wobei Zuhören in
diesem Fall wirklich nur Hinternabwischen mit der
Ohrmuschel bedeutet.

Zuhören, um Munition zu sammeln

Eigentlich interessierte es mich später, was meine Freunde
zur Moral zu sagen gehabt hätten. Während der Diskussion
aber hat es mich deutlich mehr interessiert, was ich dazu zu
sagen habe. Ich habe die beiden nicht ausreden lassen, weil
ich fand, sie schwätzten groben Unsinn (ein Urteil, zu dem
ich merkwürdigerweise schon nach vier Wörtern kommen
konnte). Neben meiner eigenen Wahrheit duldete ich keinen
Hauch einer fremden. So verhält es sich mit jedermanns
Wahrheit, weswegen Wahrheiten schlecht aufeinander zu
sprechen sind und einander nie zuhören.

Wir waren uns am Schluss übrigens doch noch einig:
Eigentlich ist es unfein, Intimitaten zu verplaudern, aber
man hört auch wahnsinnig gerne solche Geschichten. Wenn
es um Klatsch geht, ist jeder ein ausgezeichneter Zuhörer
und kümmert sich um Moral wie der Plünderer um
Ladenöffnungszeiten.
In den meisten Fällen aber ist Zuhören eine misslingende
Kunst. Sei es aus Besserwisserei, sei es aus Überforderung,
Wahrheitsmission oder Rechthaberei: Man fällt einander ins
Wort, als wüde man mit jedem Satz zutiefst beleidigt. Wer
von Zukunftsplänen berichtet, muss damit rechnen, dass sie
in einer Heftigkeit bewertet werden, als wolle man nicht
seine, sondern die Zukunft der Zuhörer planen; wer seinen
Liebeskummer loswerden will, wird auf seine Blödheit
hingewiesen, im Wiederholungsfall mit zunehmender
Schärfe. Es ist, als würden sie in den seltenen Momenten nur
zuhören, um aufzumunitionieren.

Nicht wie die Wehrmacht einfallen

Einsamkeit entsteht nicht, weil man keine Freunde hat,
sondern weil man seinen Freunden nicht zuhört.
Es macht die Freunde und einen selbst einsam, wenn alles, was sie
erzählen, auf Erwünschtheit und Wahrheitsgehalt hin
geprüft wird. Wer sich öffnet und sagt: <<Guck, so sieht es in
mir aus!>>, und dann zur Antwort bekommt: <<Oh, das sieht
aber gar nicht gut aus!», der wird sich beim nächsten Mal
ein bisschen weniger öffnen und irgendwann gar nicht
mehr. Das ist schade und das exakte Gegenteil von
Freundschaft.

Wie hört man also richtig zu?

Es ist ganz einfach: Halten Sie den Mund. Sagen Sie gar nichts. Was Sie sagen wollen, hat
ohnehin nur mit Ihnen zu tun. Ihre Meinung ist nicht
gefragt, und selbst wenn, hat sie nur mit Ihnen zu tun.
Werten Sie vor allem nicht. Es ist erstens nicht verlangt und
zweitens nicht nötig. Wenn man Ihnen etwas erzählt, so
deswegen, weil man Ihnen etwas anvertrauen möchte, und
nicht, weil man Sie ärgern will. Also hören Sie zu, denn es
gibt etwas zu lernen, vor allem über den Menschen, den Sie
einen Freund nennen.

Übrigens bin auch ich ein sehr schlechter Zuhörer. Auch ich
verfasse meterdicke und rauschhaft vorgetragene Analysen,
wenn mir jemand von seinem Liebeskummer erzählt. Und
wenn mir einer verrät, er fotografiere am liebsten
Landschaften, so sage ich ihm, er solle gefalligst Mädchen
ablichten, Landschaften seien langweilig. Als würde er in
meinem Sold stehen!

Es gibt kaum einen besseren Weg, jemanden zu
verscheuchen, als wie die Wehrmacht in sein Leben zu
fallen und alles zu kommentieren. Dem zu widerstehen,
bedeutet einen grossartigen Lohn, namlich Verständnis. Ein
offenes Ohr ist ein offenes Herz. Das meint am Ende Liebe,
und genau darum geht es ja schliesslich.
 
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